Wenn man die Begriffe "Schamanentum" oder "Schamanismus" hört, denkt man an exotische Kulturen aus Amerika oder Fernost. Doch aus europäischer Perspektive ist der Schamanismus nicht nur ein exotisches, sondern auch ein einheimisches Phänomen: Die alten Nord- und Mitteleuropäer praktizierten Kulte, die mit den schamanischen Traditionen steinzeitlicher Ur-Menschen und neuzeitlicher Naturvölker verblüffend übereinstimmen.
I Der Weltenbaum
Im Mittelpunkt der germanischen Mythologie steht der Weltenbaum, das universelle Symbol des Schamanismus. In allen schamanischen Kulturen klettert der Schamane an den Ästen und den Wurzeln des Weltenbaumes in die obere, mittlere und untere Welt. Bei den Germanen heißen diese Welten Asgard, Midgard und Utgard.
Initiationsrituale auf der ganzen Welt bestehen darin, einen heiligen Baum zu besteigen, der den Weltenbaum verkörpert: Bei der burjat-mongolischen Schamanenweihe klettert der Initiand auf eine Birke, in die neun Einkerbungen geritzt sind und verharrt dort für neun Tage und neun Nächte in Ekstase; in den Händen hält er ein magisches Schwert. In der germanischen Mythologie ist es Odin, der den in neun Welten unterteilten Weltenbaum erklettert und dort für neun Tage und neun Nächte rituell verharrt; in den Händen hält er einen magischen Speer. Die Rituale sind identisch, weil ihnen eine schamanische Kulturtradition und Kosmologie zugrunde liegt.
II Die Schamanentrommel
Um sich in Ekstase zu versetzen, verwenden Schamanen verschiedene Werkzeuge wie die Trommel, so auch die Germanen. In der eddischen Lokasenna heißt es, dass Odin "auf die Trommel schlägt" und "zusammensinkt". Er traktiert die Trommel und fällt in Trance.
Der wikingerzeitliche Runenstein von Möjbro bildet angeblich einen Krieger ab, der auf einem Pferd reitet und in den Händen einen Rundschild und ein Schwert trägt. Bei genauerer Betrachtung fällt indessen auf, dass das mutmaßliche Schwert des Reiters an der oberen Spitze eine Rundung aufweist. Offensichtlich handelt es sich um die Darstellung eines germanischen Schamanen, der auf dem Schamanenpferd ins Jenseits reitet und in den Händen eine Rahmentrommel mitsamt Schlägel hält.
III Bärenschamanen
In der germanischen Überlieferung ist immer wieder von Männern die Rede, die sich in Bärenhäute hüllen und sich in Bären verwandeln - "Berserker". Sie werden als übermenschlich starke Krieger dargestellt, die in der ersten Reihe jeder Schlachtordnung stehen und feindliche Heere aufreiben.
Es drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass die "Berserkerwut" kein militärisches, sondern ein magisches Phänomen ist, und dass die Berserker einen totemistischen Schamanenkult betrieben. Schon die ältesten Darstellungen von Schamanen, die steinzeitlichen Höhlenmalereien, bilden solche Mischwesen aus Mensch und Tier ab: Es handelt sich um Zauberpriester, die sich in Tierhaut hüllen, um sich im Geiste mit ihrem Krafttier zu verbinden. Berserker sind Schamanenkrieger, die nicht gegen Menschen, sondern gegen metaphysische Dämonen ankämpfen.
IV Germanische Schamaninnen
Antike Quellen berichten von germanischen Frauen, die über prophetische Kräfte verfügten und Orakelkunst betrieben, etwa Veleda, Albruna und Ganna - historische Schamaninnen.
Der altnordische Allgemeinbegriff für solche Seherinnen - "Völva" - lässt sich linguistisch mit dem "Stab" (altnord. volr) zusammenbringen, daher werden sie auch "Stabträgerinnen" genannt. Das ist bemerkenswert, weil im gesamten asiatischen Verbreitungsgebiet des Schamanismus vergleichbare Zeremonialstäbe verwendet werden, die als Reitinstrumente für Ekstasetänze dienen. Hier wird die Beziehung der antiken Völvas zu den mittelalterlichen Hexen offenbar: Der Zauberstab verwandelt sich zum Hexenbesen, mit dem man auf den Blocksberg fliegt - freilich ein Flug der Seele.
Schamanismus bei den Germanen
Trotz zahlreicher Belege wurde die Existenz eines germanischen Schamanentums bisher stets bestritten: In der akademischen Forschungsliteratur ist - wenn überhaupt - von "Zügen, Spuren und Einzelheiten" die Rede, die "seltsam schamanisch" und "seltsam schamanoid" seien. Es lässt sich trefflich streiten, ob die Bezeichnung "Schamanismus" für die Germanen angemessen ist, handelt es sich doch um einen sibirischen Begriff. Aber dass die Sache "Schamanismus" in der germanischen Kultur lebendig war und praktiziert wurde, lässt sich nun nicht länger leugnen.
Autor: Dr. Thomas Höffgen (Buch: Schamanismus bei den Germanen. Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen)